Dennis Lehane: In der Nacht»Wir sind süchtig danach. Wonach? Nach der Nacht – sie ist unwiderstehlich. Wer sich für den Tag entscheidet, der muss nach ihren Regeln spielen. Darum haben wir uns für die Nacht entschieden und spielen nach unseren eigenen. Das Dumme ist nur, wir haben im Grunde keine Regeln.«

Vielleicht ist manchen Dennis Lehanes Roman »Der Aufruhr jener Tage« noch in Erinnerung. Die Familiengeschichte der Coughlins, die in den Jahren 1918/19 in Boston begann, findet nun »In der Nacht« ihre Fortsetzung. Der Leser begegnet dem stellvertretenden Polizeichef von Boston Thomas Coughlin 1926. Sein Sohn Danny, der Protagonist aus »jenen Tagen«, ist inzwischen aus dem Polizeidienst ausgeschieden und versucht sein Glück in Hollywood als Stuntman, später als Drehbuchautor. Man liest nur am Rande von ihm, denn Dennis Lehane rückt im Roman »In der Nacht« seinen jüngeren Bruder Joseph ins Rampenlicht.

Zu Beginn erfährt der Leser erst einmal von Joseph Coughlins Ende. Oder vielleicht doch nicht? Er steckt mit beiden Beinen in einem zementgefüllten Fass auf hoher See – kurz davor gewaltsam über die Reling zu kippen – und lässt dabei sein aufregendes, abwechslungsreiches Leben Revue passieren.

»Und plötzlich kam ihm der Gedanke, das sein Leben – im positiven wie im negativen Sinne – nicht halb so bemerkenswert verlaufen wäre, hätte ihn das Schicksal an jenem Morgen nicht mit Emma Gould zusammengeführt.«

Als Zwanzigjähriger beraubt der Sohn irischer Einwanderer den mächtigsten und brutalsten Gangsterboss von Boston namens Albert White. Außerdem spannt Joe ihm seine Geliebte Emma Gould aus. Sie ist die Liebe seines Lebens und femme fatale zugleich. Ihre Dezemberaugen entfachen ein kaltes Feuer in ihm, das ihn bis zuletzt umtreibt. Albert Withe rächt sich. Emma verschwindet spurlos, wurde vermutlich sogar ermordet. Joe will sich beweisen, alles anders, alles besser machen als sein Vater, der so stark ist … und gerät dabei auf die schiefe Bahn. Er wird Opfer eines Verrats und landet im grauenvollsten Zuchthaus von Massachusetts. Hier lernt er zu Überleben und bereitet seinen Aufstieg in der Unterwelt vor.

Im Laufe der Geschichte entwickelt Dennis Lehane seinen Helden vom gebeutelten Kleinkriminellen zum geschäftstüchtig und selbstbewusst auftretenden Rum-Schmuggler, dessen Wirkungskreis bis nach Kuba reicht. Für ihn ist das Verbrechen ein Geschäft. Joe befriedigt Bedürfnisse, die erst durch die Prohibition entstanden sind, eine lukrative Einnahmequelle. Sein Weg ist gepflastert mit Überfällen, verruchten Kneipen, Prostituierten, Glücksspiel, Rum und jede Menge Blut. Die zweite Frau, die Joes Geschicke beeinflusst, heißt Graciela. Sie steht ihm in Ybor (Tampa, Florida) mit Rat und Tat zur Seite und sorgt dafür, dass er sein Herz behält.

Der Leser hegt Sympathie für Joe Coughlin, glaubt an das Happy-End, bis die Dame mit den Dezemberaugen wieder auftaucht. Konkurrenten greifen nach Joes Reich in Florida. Nun ahnt der Leser, dass sich Joseph Coughlin in eine Sackgasse verrannt hat. Er liest bis in die Nacht, wird von den Ereignissen überrollt und … liest den Anfang wieder und wieder.

Hollywood reißt sich um das Drehbuch und die zu vergebenden Hauptrollen.

Lehane erzählt sein Gangsterepos dicht und distanziert, jedoch zutiefst menschlich. Sorgfältig und kenntnisreich hat er es in ein Stück Zeitgeschichte verpackt, dass man ansatzweise zu kennen glaubt (die Zeit der Prohibition, des Rassenhasses, des Kampfes gegen Diktaturen und Unterdrückung, des Ku-Klux-Klans, der großen Gangstersyndikate). »In der Nacht« ist ein exzellenter Unterhaltungsroman, dramatisch und bewegend.

Dennis Lehane: In der Nacht | Deutsch von Sky Nonhoff
Diogenes 2013 (3. Auflage) | 592 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen