Ian Kelly: Casanova: Actor, Lover, Priest, SpyHis style is of a man on a sandbank, laughing at the tide. Maybe we are all Venetians now.

2015 ist ein Jubiläumsjahr für den Venezianer Giacomo Casanova (geboren 1725). Obwohl sich in der Casanova-Forschung in den letzten Jahrzehnten eine Menge getan hat, ist er vielen nur als Stereotyp bekannt: Immer noch wissen die meisten nicht mehr über ihn, als dass er haufenweise Frauen verführt hat – allenfalls noch, dass er aus einem ausbruchssicheren Gefängnis in Venedig entkommen ist. Umso seltsamer, dass seit Ian Kellys Casanova-Biografie aus dem Jahr 2009 kein nennenswertes Buch über sein Leben erschienen ist und auch für 2015 keines in Sicht ist. Dabei wurde Kellys Biografie nie ins Deutsche übersetzt.

Casanova ist in Erinnerung geblieben, weil er als alter Mann (er wurde 64 Jahre alt) seine Memoiren unter dem Titel »Die Geschichte meines Lebens« niedergeschrieben hat. Dieser Text zählt zu den Werken der Weltliteratur und wurde 2010 für mehr als 7 Millionen Euro als bisher teuerstes literarisches Manuskript überhaupt vom Brockhaus Verlag an den französischen Staat verkauft.

Das Besondere an den Memoiren sind nicht die Liebesabenteuer, die Casanova festgehalten hat: Er selbst wäre wahrscheinlich überrascht, heute vor allem als Frauenheld bekannt zu sein. Da er sich in allen sozialen Schichten bewegte – er traf Päpste und Prostituierte, Wissenschaftler und Waschfrauen, Herrscher und Hochstapler – bieten seine Erinnerungen einen extrem vielfältigen Blick auf das Leben im Europa des 18. Jahrhunderts. Dazu ist Casanova nicht nur offen für alles und an allem interessiert, er berichtet auch sehr schonungslos, offen und nüchtern.

Casanova wurde als Sohn eines Schauspielerehepaars geboren. Seine Mutter widmete sich ihrer Karriere und überließ seine Erziehung der Großmutter, die versuchte, einen Priester aus ihm zu machen. Casanova versuchte sich unter anderem im Militär und als Theatergeiger, bevor er das Glück hatte, der Günstling eines reichen Patriziers in Venedig zu werden. Von da an spezialisierte er sich darauf, Gönner in höheren Kreisen zu finden, um den Lebensstil zu finanzieren, von dem er fand, dass er ihm zustand.

Obwohl er damit recht erfolgreich ist – unter anderem nehmen sich Katharina die Große, Friedrich der Große und Voltaire Zeit für ihn –, leidet er Zeit seines Lebens unter seiner nicht-adeligen Herkunft. Im Gefängnis landete er wahrscheinlich auch wegen seiner Art, sich unverfroren über Standesgrenzen hinwegzusetzen, und nicht wegen seines frivolen Lebenswandels, der keineswegs ungewöhnlich für die Zeit war, noch wegen seiner Ansichten über Religion oder seiner alchemistischen Experimente.

Seine Memoiren wurden im Laufe ihrer Editionsgeschichte immer nur in sehr verfälschenden und verkürzten Ausgaben und Übersetzungen veröffentlicht. Erst in den 1980er-Jahren wurde das Originalmanuskript zugänglich. Kellys Biografie berücksichtigt nicht nur diesen Originaltext, sondern auch eine Vielzahl von anderem, zuvor nicht zugänglichem Archivmaterial über Casanova. Der Biograf zeichnet seinen Lebensweg unterhaltsam und mit faszinierenden Hintergrundinformationen über die Geschichte und Politik des 18. Jahrhunderts nach – vom Reisen über Essen bis hin zum Rechtssystem (Casanova war in vier verschiedenen Gefängnissen).

Natürlich sind Casanovas Memoiren selbst auch lesenswert, aber sie umfassen rund 4.000 Seiten. Wer nicht so viel Zeit übrig hat, sich aber trotzdem für Casanova oder das 18. Jahrhundert interessiert, findet beides in verdichteter Form in Kellys Biografie. Da Kelly selbst Schauspieler ist (seine berühmteste Rolle ist wohl die von Hermiones Vater in »Harry Potter«), wirft er eine besonders interessante Perspektive darauf, wie nachhaltig die Welt des Theaters Casanovas Wesen geprägt hat: Auf seinen unglaublich vielen Reisen durch ganz Europa suchte er, sobald er in einer fremden Stadt ankam, als Erstes meist die Schauspielergemeinde auf – oft bestehend aus italienischen Emigranten wie er selbst.

Kellys Schreibstil macht seine Biografie selbst zu einem literarischen Werk und bringt die Persönlichkeit Casanovas, wie sie in den Memoiren durchscheint, sehr gut herüber, ohne die Objektivität zu verlieren: Heute, schreibt Kelly, würde man Casanova natürlich als Verbrecher einordnen.

Ian Kelly: Casanova: Actor, Lover, Priest, Spy | Englisch
Tarcher 2008 | 416 Seiten