Nick Harkaway: Die gelöschte WeltAlso bekam die Piper 90 einen ausgesprochen dummen Namen und sieht wie das Produkt der Liebesnacht zwischen einem Bulldozer und einem Einkaufszentrum aus, nachdem jemand mehrere Tausend Tonnen Joghurt drübergekippt und das Ganze einen Monat im Garten stehen gelassen hat. Den Leuten, die es gebaut haben, war die Ästhetik egal. Sie wollten etwas konstruieren, das nicht untergeht und stark ist. Deshalb nahmen sie die Ölbohrplattform und schweißten sie auf riesige Raupenketten von der Größe von Nahverkehrszügen. Ins unterste Stockwerk  stopften sie die Reaktoren aus Unterseebooten, um das Ding mit Energie zu versorgen, während die Antriebssysteme aus Flugzeugträgern stammten. Die Synchronisierung erreichten sie mit Berechnungen auf Streichholzbriefchen, Getrieben aus Supertankern und einer Menge Klebeband.

Die Erde, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Sie ist durch ein Ereignis mit der Bezeichnung »Die große Löschung« weitgehend verschwunden. Durch die Erfindung von Löschungsbomben wurde die Kriegsführung revolutioniert. Keine Explosion, kein radioaktiver Fallout, sondern nur die komplette Auslöschung von allem innerhalb eines bestimmten Radius.

Diese »saubere« Lösung verringerte auch die Hemmung, sie einzusetzen, und so wird während eines globalen Konflikts ein Großteil der Erdoberfläche blankgewischt. Nur durch eine Substanz, die weltweit durch eine Pipeline verteilt und in die Atmosphäre gepumpt wird, ist überhaupt noch Leben möglich. Als es ein Leck in der Pipeline gibt und sich die austretende Substanz entzündet hat, macht sich ein zwanzigköpfiges Einsatzteam in hypermodern ausgerüsteten Trucks auf den Weg, um das gefährliche Leck abzudichten.

Der gelungene Auftakt zu einer Action-Sause im Playmobil-Stil, bevor das Buch in Kapitel Zwei in eine vierhundertseitige Rückblende in die Vergangenheit seiner Helden abtaucht. Es wirkt wie ein grandioser Witz, um die Lesererwartung zu unterlaufen. (Wer wissen möchte, wie gut dieser Witz ankam, dem empfehle ich die diesbezüglichen Rezensionen auf amazon.)

Während Gonzo Lubitsch, der charismatische Alleskönner, problemlos durch Kindheit und Jugend rauscht, muss sein Sidekick, unser namenloser Ich-Erzähler, einen härteren Weg bestreiten. Er wird von einem mysteriösen Kampfkunstlehrer in einer noch mysteriöseren Kampfkunst ausgebildet. Eine wunderbare Hommage an die »Destroyer«-Reihe und deren Verfilmung »Remo – Unbewaffnet und gefährlich«.

Anschließend besucht er die Universität und erlebt seine politische Sturm und Drang-Phase. In kaum verschlüsselter Form geht Harkaway hier mit seinem Heimatland England ins Gericht, seien es soziale Missstände, die frühere Kolonialpolitik oder neuzeitliche Kriegseinsätze. Er nimmt Bezug auf aktuelle Krisen und zeigt, dass sie universell sind.

Auch wenn seine Handlung in einem alternativen Weltenverlauf spielt, ist sie nicht weit von tatsächlichen Ereignissen entfernt. Der Verdacht liegt nahe, dass Autor Nick Harkaway (übrigens der Sohn von John le Carré), in diesem Debütwerk auch sein gesamtes bisheriges Leben Revue passieren lässt. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn es auf so kurzweilige Art geschieht. Die »Hard- und Military-SF«-Fans, die sich in dieses Buch verirrt haben, hat er zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon verloren.

Kaum ist das Buch beim Ausgangspunkt des Romans, der Behebung des Lecks, angekommen, wird dieser rasch und eher nebensächlich in einem Kapitel abgehandelt. Die Handlung des Buches schlägt so manchen Haken, ohne dass man sagen würde, es sei wirkungsreich konstruiert. Manches lässt einen ratlos zurück, anderes erscheint belanglos. Es gibt sehr viele gute Szenen und Ideen, aber einige konsequente Kürzungen hätten dem Roman sicher gut getan. Allerdings: Wenn man sich auf dieses verrückte, 730-seitige Abenteuer einlässt, wird man reich beschenkt.

»Die gelöschte Welt« ist ein Buch, von dem man unbedingt möchte, dass es einem gefällt, auch wenn es stellenweise schwerfällt.

Nick Harkaway: Die gelöschte Welt | Deutsch von Jürgen Langowski
Piper 2009 | 730 Seiten | Jetzt bestellen