gestalter_der_zukunft

Vor über 30 Jahren fiel mir ein Buch mit dem Titel »Gestalter der Zukunft« in die Hände, das 29 überaus unterhaltsame Portraits bekannter Science-Fiction-Autoren enthält. In vielerlei Hinsicht war das Buch für mich eine Offenbarung. Vor allem war ich damals sehr erstaunt, als ich ich entdeckte, dass nur wenige Autoren von ihrer Kunst existieren können. Klar, große Namen wie Kurt Vonnegut, Isaac Asimov und Michael Moorcock führten ein angenehmes Leben, doch das Gros der hier vorgestellten Schreiberlinge darbte recht umspektakulär vor sich dahin. Ein Autor, dessen Portrait mich besonders beeindruckte, war Harlan Ellison, ein hierzulande fast Unbekannter.

Trotzdem stolperte ich in der Folgezeit ständig über ihn. Oft tauchte er in Erzählungen anderer Autoren auf. Jahre später las ich, dass er er Charles Platt, dem Autor von »Gestalter der Zukunft«, auf einem Empfang einen Kinnhaken verpasste. Dann wieder machte er durch spektakuläre Prozesse auf sich aufmerksam, in denen es um Millionenbeträge ging. So verklagte er James Cameron, dessen Film »Terminator« Elemente aus einer seiner Kurzgeschichten enthält. Erst vor ein paar Jahren las ich eine alte Reportage des nicht minder legendären Gay Talese, in dem Talese schildert, wie sich der junge Ellison in einem mondänen Club mit Frank Sinatra anlegte.

Während die meisten »Gestalter der Zukunft« bescheidene, unzureichend soziologisierte Käuze mit dicken Brillengläsern waren, die ihr Leben hauptsächlich vor einer Schreibmaschine fristeten, war Harlan Ellison eine Klasse für sich. Alles an ihm war plakativ und provozierend. Allein seine Buchtitel: »Pretty Maggie Moneyeyes«, »Love Ain’t Nothing But Sex Misspelled«, »The Beast that Shouted Love at the Heart of the World«, »I Have No Mouth, and I Must Scream« und »›Repent, Harlequin!‹ Said the Ticktockman«. Wie langweilig klingt dagegen »Krieg und Frieden«!

Dann war da noch sein Haus mit seinen Geheimgängen und verborgenen Räumen, das bis zum Anschlag mit Büchern, Comics, Kitsch, Kunstwerken und sonstigem Schnickschnack angefüllt war. Ellison galt als Playboy, präsentierte sich bei seinen Lesungen als begnadeter Stand Up-Comedian, der selbst seinen alten Kumpel Robin Williams unter den Tisch quasseln konnte. Kurz: Der ideale Talk Show-Gast.

Auf der anderen Seite war er ein engagierter Bürgerrechtler, der mit Martin Luther King marschierte, sich für die Gleichberechtigung stark machte, für seine politischen Überzeugungen sogar Todesdrohungen in Kauf nahm. Ein Mann mit vielen Facetten und Widersprüchen. In den folgenden drei Jahrzehnten las ich jedes Interview, kaufte viele seiner mittlerweile 75 Bücher.

Gern erzählte Ellison, der nie ganz erwachsen wurde, von seiner Kindheit; den Radiohörspielen und Comics, die ihn prägten; vom Jahrmarkt, dem er sich als kleiner Junge anschloss, als er von Zuhause ausriss. Von den grausamen Mitschülern, die ihn wegen seiner Kleinwüchsigkeit (1,59 m) und seines Judentums diskriminierten. All dies wurde zum Treibstoff, der seinen kreativen Motor auf Touren brachte und ihn zu einem der zornigen jungen Männer jener Zeit machte.

Nach harten Jahren als Vielschreiber in New York zog es ihn in den frühen 60ern ins freundlichere Los Angeles, wo er mit 10 Cents in der Tasche ankam, um sich als Drehbuchschreiber zu verdingen. Für seine Episoden der TV-Serien »The Twilight Zone«, »The Outer Limits« und natürlich »Star Trek« heimste er schnell Ruhm und Ehre ein. Etwas Geld soll auch dabei gewesen sein.

Wenn man es genau nimmt, konnte Ellison nur in Hollywood zu dem werden, der er heute ist: Nämlich ein begnadeter Selbstdarsteller, der eine gigantische Bugwelle haarsträubender Legenden vor sich herschiebt. Berüchtigt ist die Geschichte, in der er dem Rechnungsprüfer eines Verlags einen toten Maulwurf schickte (dem er netterweise ein Kochrezept beilegte), um die Rechte einer Kurzgeschichtensammlung zurückzubekommen. Nachdem der Tierkadaver mehrere Tage von Los Angeles nach New York unterwegs war, lagerte er übers Wochenende in der Postabteilung des Verlags. Am nächsten Montag (es war Hochsommer) mussten mehrere Etagen des Gebäudes evakuiert werden. Ellison bekam seine Rechte zurück und der Leiter der Postabteilung musste seinen Hut nehmen.

Das ist nur die Kurzfassung einer seiner harmloseren Geschichten. Eine andere Geschichte, in der er während einer Storykonferenz einen Fernsehproduzenten verprügeln will, endet damit, dass sich sein Opfer einen Beckenbruch zuzieht, nachdem im allgemeinen Getümmel das Modell eines U-Boots von der Wand fällt. In dieser Hinsicht war er ein Hemingway der Jetztzeit, gepaart mit einem Schuss Mark Twain und ausgestattet mit der Lizenz zum Fresse polieren.

Geschichten wie diese pflegte er auf seinen Lesungen zu erzählen. Viele bezeichneten ihn deswegen als größtes Großmaul seit Muhammad Ali. Ellison war zwar ein Entertainer reinsten Wassers, doch wie Ali konntet er großen Worten große Taten folgen lassen. Medienwirksam pflegte er sich mit seiner klapprigen Schreibmaschine in die Schaufenster von Buchhandlungen zu setzen, um dort nach Stichworten, die ihm von der Kundschaft zugerufen wurden, Stories zu verfassen. Und viele der so entstandenen Kurzgeschichten gewannen Preise.

Zu leicht vergisst man, dass er trotz all der Anekdoten, die nur zu leicht die Sicht auf den wahren Mann verstellen, ein hochkarätiger Schriftsteller ist. Man nehme nur seine Novelle »Mephisto in Onyx«, die praktisch bis zur letzte Seite mit überraschenden Wendungen aufwarten kann.

Schön ist auch der Bildband »Mind Fields«, in dem er sich von mehreren Gemälden zu kurzen Texten inspirieren ließ. Meine Lieblingsbücher sind jedoch die Essaybände »Harlan Ellison’s Watching« und »An Edge in My Voice«. Im erstgenannten Titel kann man praktisch zusehen, wie ein Autor seinen Stil findet.

Ellisons Extravaganz und Verspieltheit sind vielleicht ein Grund, wieso er nie den ganz großen Wurf gelandet hat. Schuld war bestimmt auch die Weigerung sich auf ein einziges Genre festzulegen wie etwa Stephen King. Bei vielen seiner Geschichten verschwimmen die Grenzen zwischen Fantasy, Krimi, Science Fiction und Literatur. Die Weigerung sich festzulegen zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben: So moderierte er eine Radiosendung, schrieb Drehbücher, Filmkritiken, Essays, einige Comics und war Berater der TV-Serie »Babylon 5«. Um die wirklich großen Werke zu schaffen, hätte sich Ellison wohl zumindest eine Zeit lang auf eine einzige Sache konzentrieren müssen, statt auf mehreren Hochzeiten zu tanzen, wie es seine Art ist. So aber reichte es »nur« zum Kultautor von immerhin rund 1700 Kurzgeschichten.

Doch trotz seines Kultstatus wurden hierzulande nur drei seiner Bücher verlegt. Das letzte vor 20 Jahren. Das soll nun anders werden. Mit »Ich muss schreien und habe keinen Mund« erscheint im August ein 600 Seiten starker Sammelband bei Heyne. Ob der Autor dadurch endlich ein deutsches Publikum finden wird, ist fraglich. Die Dinge, die Ellison in den 60ern und frühen 70ern geradezu revolutionär wirken ließen, sind längst vom Mainstream absorbiert worden. Der medienwirksame zornige junge Mann ist er längst nicht mehr.

Ellison, der im Mai 80 wird, sind solche Spekulationen mit ziemlicher Sicherheit egal. Mittlerweile verlässt er sein fantastisches Haus, das den Namen »The Lost Aztec Temple of Mars« trägt, nur noch selten. Produktiv ist er noch immer. Heute ist der einstige Weiberheld seit über drei Jahrzehnten glücklich verheiratet (»Zuerst finden mich die Frauen faszinierend, doch dann wollen sie nur noch, dass ich endlich die Klappe halte«). Im letzten Jahr veröffentlichte er seine erste Graphic Novel und seit einiger Zeit gibt es sogar einen youTube-Kanal, der seinen Namen trägt – obwohl er das Internet und seine Nerds noch immer von ganzem Herzen hasst (»I just don’t want to be bothered by the shitheads on the internet!«).

Trotzdem: Happy Birthday!